Kampf gegen Fluchtursachen

Axel Troost
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Die hohe Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge ist eine "historische Bewährungsprobe" für die Europäische Union. Es müsse eine gemeinsame europäische Antwort darauf gefunden werden, wie Europa auf Herausforderungen wie Krieg und Nachbarschaft reagiert. Europa erlebe "so direkt wie nie", dass in der globalisierten Welt Kriege, Konflikte und Perspektivlosigkeit der Menschen in anderen Erdteilen "bis vor unsere Haustür gelangen", betont Bundeskanzlerin Merkel. Um Fluchtursachen zu bekämpfen, müsse eine Lösung für den Konflikt in Syrien und dem gesamten Nahostraum gefunden werden, denn der Großteil des aktuellen Zustroms von Zufluchtsuchenden kommt aus dieser Region, hob die Kanzlerin hervor.

Dieser Einsicht und der formulierten politischen Schlussfolgerung entsprechen allerdings zu wenig konkrete Maßnahmen. Die "EU-Regierungschefs" und die EU-Kommission diskutieren wiederholt über die Bereitstellung von Geld und Personal zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Diese gemeinsame Lastenverteilung kommt so wenig voran wie eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer.

Die Kanzlerin Angela Merkel bemängelt zurecht, dass die EU-Partnerländer ihre Verpflichtungen nur unzureichend erfüllen. "Es ist ja offensichtlich, dass einige wenige Länder im Augenblick sehr, sehr viele Flüchtlinge haben, und wenn die auch noch an den Außengrenzen alle Personalkapazitäten stellen müssen, dann wäre das nicht das, was wir unter einer fairen Lastenverteilung verstehen."

Und der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekräftigte die Kritik, dass es vor allem für die stark belasteten Ankunftsländer Italien und Griechenland zu wenig finanzielle und personelle Unterstützung gebe. Ohne funktionierende Registrierungszentren können keine Flüchtlinge, die bereits in der EU angelandet sind, in großem Stil auf alle Mitgliedsländer umverteilt werden. Insgesamt sollen bisher 160.000 Migranten umgesiedelt werden, sofern sie als schutzbedürftig gelten. Es gibt aber erheblichen Widerstand unter den Mitgliedsländern der EU bei der Verteilung der Flüchtlinge.

Vor allem bei den Finanzen hapert es: Viele EU-Staaten hatten finanzielle Unterstützung für die Nachbarländer Syriens zugesagt, bis jetzt aber den Worten keine Taten folgen lassen. "Die Mitgliedsstaaten sind im Verzug" und müssten nun umgehend die versprochenen 2,25 Mrd. Euro freigeben, kritisierte Juncker. Die gekürzten Hilfszahlungen des Westens für die Flüchtlingslager in Jordanien, der Türkei und dem Libanon gehören nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR zu den wesentlichen Gründen für den Anstieg der Flüchtlingszahlen in den vergangenen Monaten.

Im Kampf gegen die Flüchtlingskrise haben die EU-Staaten die zugesagten Zahlungsverpflichtungen bisher massiv verfehlt. Die beim Brüsseler Flüchtlingssondergipfel im September für das Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs vereinbarten Zahlungen sind bis Mitte Oktober faktisch ausgeblieben. So gibt es bisher anstelle der zugesagten 1,8 Mrd. Euro für den Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika zur Bekämpfung von Fluchtursachen lediglich Zusagen von 24,3 Mio. Euro - 8,9 Mio. Euro davon kommen allein von den Nicht-EU-Ländern Norwegen und der Schweiz. Entgegen den Einsichten der Kanzlerin von der "drittgrößten Herausforderung nach dem zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung" bisher stellt Deutschland, ebenso wie Frankreich, Großbritannien und Österreich, für den Treuhandfonds Afrika überhaupt keine Mittel bereit.

Bei der Finanzierung des Welthungerprogramms und des Treuhandfonds Syrien ist die Situation ähnlich: Den großen Versprechungen folgen keine Taten. Die EU-Kommission hatte dagegen innerhalb von drei Wochen 2,8 Mrd. Euro Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt - jeweils 500 Mio. Euro für die Welthungerhilfe und den Treuhandfonds Syrien und 1,8 Mrd. Euro für den Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. Die EU-Staaten hatten sich verpflichtet, "entsprechende Beträge bereitzustellen". In dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom September heißt es dazu: "Wir fordern die Organe, die Agenturen und die Mitgliedsstaaten dringend auf, ihre Arbeiten an allen Aspekten der Migrationskrise zu beschleunigen".

Faktisch ist Europa dabei die historische Bewährungsprobe zu verlieren. Dies ist ein politisches Desaster unterstreicht auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: "Wenn die hilfsbedürftigen Länder das Geld nicht bekommen, dann können wir Hot Spots einrichten, so viel wir wollen. Dann wird das Flüchtlingsproblem nicht zu managen sein."

Der erste zentrale Schritt einer europäischen Gesamtstrategie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ist die sofortige Refinanzierung der Flüchtlingsarbeit der UNHCR. Im zweiten Schritt kann Europa versuchen einen Beitrag zur Konfliktregelung in den außereuropäischen Krisenregionen zu leisten. Besonders wichtig ist dabei die intensive Zusammenarbeit mit Staaten außerhalb der Europäischen Union. Der französische Staatspräsident Francois Hollande benennt zurecht den Kernpunkt: "Nachdem wir die Sicherung der Außengrenzen und die Registrierzentren für Flüchtlinge beschlossen haben, geht es nun darum, jenen Ländern zu helfen, die außerhalb Europas die Flüchtlinge aufnehmen." Gemeint sind die Länder des Westbalkans, Jordanien und der Libanon sowie die Türkei. Mit ihr soll nach den Plänen Brüssels eine ganz besondere Partnerschaft entstehen, schließlich habe das Land bereits zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und sei zudem seit langem Kandidat für einen späteren EU-Beitritt.

Doch nicht alle EU-Länder können sich mit der Perspektive anfreunden, neben einer Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise künftig auch mehr mit der Türkei zu teilen: Es dürfe nicht sein, dass nur, weil die Türkei der EU helfen würde Flüchtlinge zu halten, Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger eingestanden würden, kritisierte Hollande. Da müsse es eine Regelung geben, die an einige Bedingungen geknüpft werden sollten. Die Angelegenheit werde ansonsten zu weiteren Auseinandersetzungen und Verzögerungen führen.

Viele EU-Staaten, darunter auch Deutschland, sehen eine Kooperation mit der Türkei hingegen als Möglichkeit, um den akuten Druck abzuschwächen, den sie in dieser Krise verspüren. Solche Hoffnungen könnten wiederum die Bereitschaft zu Zugeständnissen an die Türkei erhöhen, was allerdings angesichts der Menschenrechtssituation und dem faktischen Bürgerkrieg in der Türkei mit dem kurdischen Bevölkerungsteil für mich unakzeptabel ist.

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn hat eine Einigung der EU-Kommission mit der Türkei auf einen Aktionsplan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise bestätigt. "Es ist wesentlich, das Verhältnis mit der Türkei auf eine neue Grundlage zu stellen", sagte Hahn nach Gesprächen mit der türkischen Staatsführung in Ankara. Nun seien die EU-Staaten am Zug.

Die Visa-Liberalisierung mit der Türkei soll vorangetrieben werden und stehe im Frühjahr nächsten Jahres auf der Tagesordnung des EU-Gipfels, sagte Hahn. Die EU könne sich aber nicht auf einen Zeitpunkt zur Abschaffung der Visapflicht festlegen. Gleichzeitig soll eine "neue Dynamik" durch die Eröffnung von neuen Kapiteln in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entstehen - eine konkrete Zahl sei nicht vereinbart worden. Die EU-Staaten müssten der Türkei auch erhebliche Finanzmittel zur Verfügung stellen. Da müsse man zwei bis drei Milliarden Euro ins Auge fassen. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte, die Einigung mit der Türkei sehe vor, dass Ankara im Gegenzug für schärfere Grenzkontrollen beschleunigte Verhandlungen über Visa-Erleichterungen und einen EU-Beitritt sowie milliardenschwere Unterstützung erhalte. Türkische Politiker sehen diese vermeintliche Einigung eher skeptisch.

Der türkische Präsident Erdogan hat die Haltung der EU in der Flüchtlingsfrage deutlich kritisiert. Zwar betonten die Europäer derzeit, dass Europa die Türkei brauche, aber zugleich lehnen sie einen Beitritt der Türkei zur EU ab. Die Türkei sei wirtschaftlich und von den Beitrittskriterien weiter entwickelt als viele EU-Mitgliedstaaten. Und die Türkei habe 2,2 Millionen Syrer und 300.000 Iraker aufgenommen.

Noch gibt es keine Einigung und viele offene Fragen. Es ist faktisch ein Zweckbündnis in der Flüchtlingskrise, was sich zwischen der Türkei und der EU abzuzeichnen beginnt. Politisch weiterführen könnte es, wenn in einem solchen Abkommen vereinbart werden könnte, dass Flüchtlinge in der Türkei einen besseren Status und bessere Lebensbedingungen erhalten würden. Dies wäre eine Fortschritt für die Flüchtlinge, deren Lage in den Flüchtlingsunterkünften in der Türkei erträglicher würde. Dies könnte dann auch die Grundlage für eine Ausweitung der Flüchtlingscamps und deren Kofinanzierung durch die EU sein.

Der Vorteil für die Türkei ergibt sich aus der Lastenteilung für die Unterbringung von über zwei Millionen Flüchtlingen, die sie aufgenommen hat. Gewinnen würde Europa, wenn die Zahl der Menschen, die in unseren Grenzen Schutz suchen, sich nicht noch um diejenigen erhöhte, die in der Türkei wohl sicher sein mögen, aber keine Perspektive für sich sehen. Wenn die Europäer einige Milliarden Euro in die Hand nehmen, dann kann das ein weiterer Schritt zur Entspannung in der Flüchtlingskrise sein. Allerdings bleiben dann immer noch die Anforderungen im Rahmen der Syrienhilfe und des Programms der UNHCR.

Aus meiner Sicht hat die historische Bewährung Europas also drei zentrale Aspekte:

  • Zunächst die Einhaltung der Finanzzusagen für die UNHCR und den Syrienfonds.
  • Dann eine Lösung für die entscheidende Rolle, die der Türkei in der Flüchtlingskrise zukommt. Allerdings darf die vertiefte Zusammenarbeit mit der Türkei nicht zum politischen Ausverkauf jener demokratischen Werte und menschenrechtlichen Standards führen, die vom EU-Beitrittsland Türkei erwartet werden müssen.
  • Und schließlich: eine Neubegründung der EU braucht einen deutlichen Budget-Zuwachs, eine stärkere Kontrolle und Veränderung der Politik der Europäische Zentralbank und einen europaweiten Investitionsplan. Arbeitslosigkeit ist ein Problem für Millionen Menschen in Europa. Die strukturelle Unterfinanzierung kann geändert werden.

Ich trete dafür ein, dass die politische Linke stärker als bisher in den öffentlichen Diskurs hineinträgt, dass im größeren Maßstab einzig ein einheitlicheres Europa ein Motor für Investitionen und Wachstum sein kann und zugleich für die wahre Bedeutung der europäischen Staatsbürgerschaft wirbt, die auf Chancengleichheit, Offenheit und Wohlstand basiert. Auf diese Weise können sowohl auf ökonomischer als auch auf symbolischer Ebene die vielfach vereinfachten und anachronistischen Vorschläge von Populisten und Nationalisten jeglicher Couleur in Europa gekontert werden.

Rechtspopulistische und nationalistische Bewegungen fordern ganz Europa heraus. Die einzig mögliche Antwort darauf ist ein Erneuerung Europas. Ein Europa, das stark genug ist dieser Kritik zu begegnen. Ein Europa, das weniger Distanz zu den Menschen und mehr Demokratie aufweist. Ein Europa, das in der Lage ist, die alltäglichen Probleme der Bevölkerung besser zu lösen, ist essentiell, um das Misstrauen der BürgerInnen zu beseitigen.